Reform der EU-Produkthaftungsrichtlinie: Ein Überblick

Am 12. März 2024 verabschiedete das Europäische Parlament die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie. Nun wartet die Richtlinie nur noch auf die formelle Zustimmung des Europäischen Rates, der diese aber bereits signalisiert hat. Danach wird die Richtlinie voraussichtlich Ende 2024 in Kraft treten, 20 Tage nach ihrer offiziellen Verkündung. Nach Inkrafttreten haben die Mitgliedstaaten 24 Monate Zeit, diese in nationales Recht umzusetzen. In Deutschland und anderen EU-Ländern ist daher spätestens ab 2026 mit neuen Regelungen in der Produkthaftung zu rechnen. Diese Reform bedeutet eine erhebliche Verschärfung für Unternehmen im Bereich der Produkthaftung sowie neue Herausforderungen und Haftungsrisiken.
Ziele der Reform der EU-Produkthaftungsrichtlinie
Das EU-Produkthaftungsrecht von 1985 wurde unter anderem als Reaktion auf den Contergan-Skandal der 60er Jahre eingeführt. Das Ziel: Den Verbraucher vor unsicheren Produkten schützen und klare Haftungsstandards für Hersteller setzen. Es ermöglicht Entschädigungen bei Personen- und Sachschäden direkt vom Hersteller, unabhängig von der Vertragskette und dem Verschulden.
Allerdings benötigte diese Richtlinie aus den 80ern dringend eine Modernisierung, um den Anforderungen des digitalen Zeitalters gerecht zu werden. Die zunehmende Digitalisierung und neue Technologien wie künstliche Intelligenz (KI) bringen komplexe, smarte Produkte hervor, die vom aktuellen Produkthaftungsrecht nicht ausreichend erfasst werden.
Ein weiteres zentrales Ziel der Reform ist die Unterstützung der EU-Nachhaltigkeitsstrategie im Rahmen des „Green Deal“. So sollen beispielsweise Haftungsfragen im Geschäftsmodell der Kreislaufwirtschaft neu geregelt werden. Diese Regelung hat vor allem Auswirkung auf die Automobilindustrie und den Bereich des autonomen Fahrens. Darüber hinaus erweitert die Reform den Kreis der Haftungssubjekte und bezieht moderne Wirtschaftsakteure wie Fulfillment-Dienstleister und E-Commerce-Plattformen ein. Auch die Erweiterung des Haftungsbegriffs auf Softwareprodukte, smarte Produkte und KI-Systeme stellt eine entscheidende Änderung dar.
Wesentliche Neuerungen durch die Reform der EU-Produkthaftungsrichtlinie
Die Reform der EU-Produkthaftungsrichtlinie bringt bedeutende Änderungen für Unternehmen mit sich, die in die Herstellung und den Vertrieb von Produkten involviert sind. Mit dem Ziel, das Produkthaftungsrecht an das digitale Zeitalter anzupassen und den Verbraucherschutz zu stärken, umfasst sie beispielsweise neue Regelungen für Software, Online-Marktplätze und die Definition ersatzfähiger Schäden. Im Folgenden wesentliche Neuerungen im Überblick:
Einbeziehung von Software als Produkt
Eine entscheidende Änderung ist die Ausweitung des Produktbegriffs auf Software sowie digitale Produktionsdateien. Künftig zählt sowohl eingebettete Software (embedded Software) als auch eigenständige Software zu den Produkten im Sinne der Richtlinie. Das bedeutet, dass auch Hersteller für Schäden haftbar gemacht werden können, die durch fehlerhafte Software verursacht wurden. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Kostenlose Open Source-Software fällt nicht unter die Richtlinie und bleibt von der Haftung ausgeschlossen, wenn sie nicht geschäftlich zur Verfügung gestellt wird.
Erweiterung der Haftung auf Online-Marktplätze
Die Reform dehnt die verschuldensunabhängige Haftung zudem auf eine größere Gruppe von Akteuren im Online-Handel aus. Neu in den Kreis der potenziell Haftenden aufgenommen werden:
- Bevollmächtigte des Herstellers
- Fulfillment-Dienstleister (Versand-, Verpackungs- und Lagerdienstleister)
- Einzelhändler
- Betreiber von Online-Marktplätzen
Diese Erweiterung zielt darauf ab, den Verbraucherschutz im E-Commerce zu verbessern. Allerdings gibt es für diese Haftung teils enge Voraussetzungen, sodass nicht in jedem Fall eine Haftung dieser Akteure vorliegt.

Präzisierung des Fehlerbegriffs
Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie legt den Fokus verstärkt auf die Anforderungen des Produktsicherheitsrechts, insbesondere der Produktsicherheitsverordnung (GPSR). Ein Produkt kann jetzt als fehlerhaft gelten, wenn beispielsweise notwendige Software-Updates fehlen, die Schwachstellen in der Cybersicherheit beheben sollen. Zudem wird ein behördlicher Eingriff, wie ein Produktrückruf wegen Sicherheitsbedenken, als Hinweis auf die Fehlerhaftigkeit eines Produkts gewertet.
Neu ist auch die Regelung für Produkte, deren Hauptzweck die Schadensverhinderung ist: Erfüllt ein solches Produkt seinen Zweck nicht, wird dies als Produktfehler eingestuft. Der EU-Gesetzgeber zielt hier besonders auf Produkte wie Rauchmelder ab. Diese Regelung könnte jedoch auch für medizinische Implantate wie Herzschrittmacher relevant sein, für die bereits hohe Anforderungen bestehen, basierend auf einem EuGH-Urteil von 2015.
Beweiserleichterung für die Geschädigten
Eine weitere wichtige Änderung betrifft die Beweislage in Haftungsfällen. Geschädigte erhalten eine Beweiserleichterung, insbesondere in Fällen, in denen die Beweisführung aufgrund der technischen oder wissenschaftlichen Komplexität übermäßig schwierig ist. Dies ist vor allem bei Technologien wie KI-Systemen und maschinellem Lernen relevant, bei denen die Ursachen für einen Fehler oft schwer nachvollziehbar sind. Der Kläger muss nun nur noch darlegen, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit das Produkt war, das fehlerhaft war und den Schaden verursacht hat. Diese Änderung erleichtert es Geschädigten, ihre Ansprüche durchzusetzen.
Offenlegungspflicht für Beweismitteln
Der finale Entwurf der EU-Produkthaftungsrichtlinie fordert, dass der Beklagte in einem Gerichtsverfahren auf Antrag des Klägers relevante Beweismittel offenlegen muss („disclosure of evidence“). Diese Regelung soll den Informationsnachteil des Geschädigten hinsichtlich der Herstellung und Funktionsweise des Produkts ausgleichen.
Diese Offenlegungspflicht ist im europäischen Kontext neu und geht über die bisherigen deutschen Regelungen (§ 142 ZPO) hinaus, da sie nicht auf Urkunden beschränkt ist. Zudem sieht der Entwurf vor, dass der Kläger auf Antrag des Beklagten ebenfalls Beweismittel offenlegen muss. Gerichte sind verpflichtet, die Geschäftsgeheimnisse des Beklagten zu schützen, und die Offenlegung muss auf ein erforderliches und verhältnismäßiges Maß begrenzt sein. Ziel ist es, eine übermäßige Ausforschung wie im angloamerikanischen Zivilprozessrecht zu vermeiden. Dennoch bleibt der genaue Umfang dieser Offenlegungspflicht noch unklar.
Verlust und Verfälschung von Daten als ersatzfähiger Schaden
Neu ist zudem die Erweiterung des Begriffs des ersatzfähigen Schadens. Künftig gelten auch der Verlust und die Verfälschung von Daten als ersatzfähiger Schaden. Allerdings gibt es eine Einschränkung: Diese Regelung gilt nicht für Daten, die ausschließlich für berufliche Zwecke verwendet werden. Diese Änderung trägt der zunehmenden Bedeutung digitaler Daten im modernen Geschäfts- und Konsumentenalltag Rechnung.
Tiefgreifendere Einschränkung der Haftungsbefreiung
Der finale Entwurf der EU-Produkthaftungsrichtlinie schränkt bisherige Haftungsausschlüsse weiter ein. Normalerweise haftet ein Hersteller nicht, wenn ein Produktfehler zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens noch nicht existierte. Neu ist jedoch, dass dieser Ausschluss nicht mehr gilt, wenn Fehler nachträglich durch Software oder damit verbundene Dienstleistungen auftreten, die unter der Kontrolle des Herstellers stehen. Zum Beispiel haftet der Hersteller, wenn er nach dem Inverkehrbringen des Produkts keine notwendigen Software-Updates bereitstellt. Damit wird die Produkthaftung auf Software im Post-Marketing-Bereich ausgeweitet.

Fazit und Übergangsregelungen
Die EU setzt klare Signale für mehr Transparenz, Sicherheit und Verantwortung im digitalen Markt. Angesichts dieser umfassenden Änderungen bietet unsere Kanzlei LLP Law|Patent mittelständischen Unternehmen im B2B-Bereich, KMU und Startups umfassende Beratung bei der Umsetzung der neuen Richtlinie. Wir unterstützen Sie bei der Überprüfung und Optimierung Ihrer Compliance-Maßnahmen, um Haftungsrisiken zu minimieren und rechtliche Sicherheit zu gewährleisten. So können Sie sich auf den veränderten Rechtsrahmen einstellen und sicherstellen, dass Ihr Unternehmen optimal aufgestellt ist.
Arno Lohmanns | Rechtsanwalt
Herr Rechtsanwalt Arno Lohmanns ist Ihr Ansprechpartner für alle Fragen der internationalen Vertragsgestaltung, des IT- und des Technologierechts. Mit über 25 Jahren Berufserfahrung in international tätigen Kanzleien und Industrieunternehmen findet er für Sie zielsicher maßgeschneiderte vertragliche Lösungen in deutscher und englischer Sprache, nicht nur auf Basis deutschen Rechts, sondern auch auf Basis zahlreicher anderer nationaler Rechtsordnungen. Arno Lohmanns versteht Ihr Geschäftsmodell und die kaufmännischen Zusammenhänge, begleitet Sie bei Ihren geschäftlichen Unternehmungen in anderen Rechtsordnungen und steht Ihnen als kompetenter Verhandlungspartner zur Seite, insbesondere in allen grenzüberschreitenden Situationen.